Was machst du hier im Theater?
Ich glaube, ich versuche auszudrücken. Also ganz genau kann ich dir gar nicht sagen, was ich hier mache. Es wechselt ständig. Insbesondere bei diesem Projekt geht es darum, möglichst keine feste Form zu entwickeln, sondern – man könnte es ein bisschen poetisch sagen – die Wahrheit des Augenblicks zu finden oder zu erleben. Die Arbeit quasi nicht vorher zu machen, sondern immer dann, wenn man gerade auf der Bühne steht. Nichts wirklich zu können, sondern jedes Mal neu zu versuchen und zu riskieren und falsch zu liegen und dann zu spüren: War es das jetzt? Und wenn es das nicht war, weiter zu suchen, Texte zu wiederholen…
Erzähl doch mal etwas zu dem aktuellen Projekt.
Es heißt Wandlung 21 und hat etwas mit der Schauspielmethode Slow Acting zu tun. Es ist auch als eine Art Ruhepol zu verstehen, der dieser Zeit entgegengesetzt werden soll. Das Projekt hat ganz viel mit Gespür zu tun, mit Zeit und Ruhe. Es gibt ein Konzept, was aber sehr frei gehalten wird. Es gibt immer eine Idee für eine Probe, aber wie es dann abläuft und wo die Reise hingeht, hängt dann immer von uns selbst ab. Ganz viel wurde wieder verworfen, ganz Neues wird noch gesucht und vieles ist unentschieden, obwohl wir schon viel geprobt haben.
Was gibt es für Impulse zu Beginn einer Probe, von denen ihr ausgehen könnt?
Wir fangen mit Übungen an, um vielleicht auch den Alltag etwas draußen zu lassen. Stimmübungen, Atemübungen und Körperübungen. Und es ist eine neue Tradition entstanden, dass Gianni ungefähr an jedem zweiten Termin Fotos mitbringt, die er davor gemacht hat. Dadurch haben wir eine Rückmeldung, die nicht verfälscht durch Emotionen ist. Natürlich kann man auch mit Fotografie etwas kaschieren, ein Bild erstellen. Aber durch Giannis Fotos haben wir auf jeden Fall einen visuellen Eindruck von uns selbst, können uns selbst beobachten. Jede Probe leitet sich auch ein bisschen von der davor ab und orientiert sich an dem, woran wir arbeiten möchten und müssen. Jetzt gerade sind wir dabei, ganze Durchläufe zu machen, also mit Kostümen und Schminke und so weiter. Martin und ich wurden da einfach rein geworfen unter dem Motto: Verhalte dich wie in einer Generalprobe. Insgesamt ist es also eine Mischung aus Übungen, die wir machen, um etwas zu lernen und ehe wir uns versehen, sind wir im Spiel für die Aufführung drin. Manchmal verwischt das total.
Wie lange bist du eigentlich schon im Theaterlabor dabei?
Seit diesem Projekt, quasi erst seit einigen Wochen. Ich kenne den Verein aber schon länger. Wolfgang hat mir schon Einzelunterricht gegeben, und meine Mutter ist ja auch irgendwie verbandelt und spielt hier Klavier. Ein paar Jahre kenne ich das Theater schon, war aber nie im Ensemble. Ich bin jetzt auch nicht Teil des Ensembles, sondern ich bin Teil dieses Projekts. Ich habe eigentlich Operngesang studiert und das ist natürlich schon was anderes, insbesondere die Bühnenfähigkeiten, die man dort lernt. Ganz wesentlich ist der Unterschied, dass in der Oper die meiste Zeit die Geschwindigkeit vorgegeben ist. Du hast dieses Konstrukt der Musik, das heißt Text – ob gesungen oder gesprochen – muss eigentlich immer auf die Musik gesetzt sein. Das heißt, es gibt einen Zeitpunkt, zu dem du genau dies und das sagen musst und das ist für einen Schauspieler eigentlich undenkbar. Also natürlich gibt es choreografierte Schauspielstücke, aber eigentlich ist der Grundgedanke des Schauspiels ja diese freie Arbeit, um zu einer Aussage zu kommen. Daher ist das hier schon eine andere Schule als das, was ich bisher kannte.
Was macht die Herangehensweise von Wolfgang so anders?
Es wird immer die Verfremdung in den Mittelpunkt gestellt, das heißt etwas Unnatürliches, etwas völlig Übertriebenes. Es geht bei diesem Projekt darum, das Naturalistische komplett herauszunehmen. Selbst eine naturalistische Körperhaltung, die auch Spannung beinhalten kann, soll komplett vermieden werden. Dieses Herausnehmen des Naturalistischen betrifft auch Stimme und Klang. Das heißt nicht, dass die Stimme verzehrt werden soll, aber die Stimme passt sich dem Körper an und bekommt so einen sehr eigenen Ausdruck. Was diese Methode auch ausmacht ist, dass sie für mich nicht auf Wiederherstellbarkeit basiert. Wenn man im regulären Theater arbeitet, dann geht es auch ganz oft darum, Dinge wiederherstellen zu können, um die Prozesse ähnlich zu halten. Man hat einfach eine Struktur, mit der man durch ein Stück geht und hat innerhalb dieser Struktur emotionale Prozesse, die man spielen muss, darstellen muss, zeigen muss, ausdrücken muss. Das gibt es hier einfach überhaupt nicht. Das betrifft auch unsere Textgrundlage. Einer der ursprünglichen Text ist Iphigenie auf Tauris von Goethe. Der wurde so zerstückelt und dekonstruiert und am Ende von uns auch so willkürlich wiedergegeben, das hat einfach keine rote Linien.
Wisst ihr, was in dem Moment passieren wird, wenn ihr das Stück zur Aufführung bringt?
Nein, gar nicht! Ich kann es auch schwer einschätzen. Ich habe diesen Anspruch ganz schnell abgelegt, da etwas wirklich verstehen zu wollen. Es geht um Wirkung und ich denke, das wird auch das Experiment sein – eben nicht wissen zu können, was passiert, sondern Stimme, Bewegung, Ausdruck wirken zu lassen. Ich glaube, unsere Aktivität besteht einfach darin, Prozesse zu durchleben oder darzustellen. Dem Publikum wird auf jeden Fall kein roter Faden in der Narration präsentiert, sondern wir selbst sind durch unsere Darstellung der rote Faden. Das heißt, es geht viel um die Wirkung dessen, was wir tun, nicht um intellektuelles Verständnis. Da passt dann wieder der Ausdruck die Wahrheit des Augenblicks. Der Zuschauer wird in die Prozesse eingebunden.
Was hat dich so gereizt, an dem Projekt teilzunehmen?
Ich kann nicht sagen, dass ich vor meiner Zusage schon sehr viel wusste. Ich bin neben dem musikalischen Bereich an der Oper im Theater zu Hause, vielleicht werde ich das sogar noch studieren. Ich schätze die Arbeit mit Wolfgang sehr, ich habe Anfang des Jahres viel mit ihm gearbeitet und das war immer so ein Grenzgang – immer irgendwie unbequem, aber gut unbequem. Ich habe auch gerade einen anderen Job, etwas außerhalb der Kunst, um Geld zu verdienen, jetzt in der Pandemie. Ich bin Integrationshelfer an einer Förderschule. Daher ist das Projekt derzeit sehr angenehm, um wieder auf der Bühne zu stehen und Kunst wieder möglich zu machen.
Interview von Junia Hertgarten, 23. Juni 2021
Ensemble Wandlung21
Es spielen
- Martin Pyka – Figur A
- Nikolai Karrasch – Figur B
Leitung
- Wolfgang Keuter – Regie, Schauspiel, Psychodrama
- Gianni Sarto – Maske, Kostüm, Foto, Video
- Sigrid Abendroth – Regieassistenz
- Doris Horn – professionelle Feedbacks
- Antje Orentat – Lichttechnik
Lieber Nikolai Karrasch,
Dein Bericht macht neugierig, weckt Interesse an dieser verwandelten Form des Agierens. Ich freue mich sehr darauf, morgen Abend dabei zu sein.
Ich empfinde es genauso mit den Einzelstunden bei Wolfgang, sie sind schlimmschön 😉 – kosten mich immer Überwindung, aus mir herauszugehen und dem Ausdruck zu verleihen, was gerade in diesem Moment ausgedrückt werden will. Einfach zulassen – Dasein.
Ursprünglich als Grundkonzept unserer Entstehung gedacht, bevor DaHaben, DaMachen, DaBewerten sogar DaVerurteilen die Schönheit jeden Augenblicks ablösten.
In meinen Trainings zum “Speaken” vor Wirtschaftsunternehmen wird oft nur angetrieben und möglichst viel in wenig Zeit gepackt.
Es ist wunderbar mit Slow Acting eine Methode zu haben, die den Gegenentwurf zur schnelllebigen Zeit und der sehr oberflächlichen Beobachtung bildet.
Und doch, hier wende ich mich an Wolfgang, bleibe ich bei meiner Idee – denn es muss auch Menschen geben, die in der Wirtschaft den Wandel21 oder mit meiner Bezeichnung, den Klimawandel anstubsen. Danke schön
Das hast du sehr spannend beschrieben, lieber Nikolai.
Ich bin schon neugierig, was heute Abend geschieht und freu mich auf den Abend. Wandlung 21.
Viel Erfolg Dir und Martin!
Herzlichst
Gabriela